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Verspricht also größtmögliche Gleichheit immer auch mehr Gerechtigkeit? Das zu glauben liegt nahe, wie das Beispiel mit dem Kuchen zeigt. Gibt es also eine Art ungeschriebenes Gesetz, das gerechtes Handeln bestimmt? Hat der Mensch vielleicht sogar ein von Natur aus gerechtes Wesen?
Dieser Frage ist auch der 2002 verstorbene amerikanische Philosoph John Rawls nachgegangen und kam zu erstaunlichen Ergebnissen. Sein Werk "A Theorie of Justice" von 1971 veränderte das allgemeine Verständnis von Gerechtigkeit grundlegend. In Rawls Gedankenspiel "Schleier des Nichtwissens" machte er folgende Überlegungen: Wie müsste eine Welt aussehen, in der echte Gerechtigkeit herrscht?
Wir stellen uns vor, wir wären noch nicht geboren und dürften mitbestimmen, in was für eine Welt wir geboren werden wollen: Wie werden die materiellen Güter verteilt, welche Rechte und Pflichten haben wir, wie werden Zugang zu Bildung, Gesundheit etc. verteilt, wer bekommt, welchen Arbeitsplatz? Da wir der "Lotterie des Lebens" unterworfen sind, weiß keiner von uns, welchen Platz er einmal in dieser neuen Welt einnehmen wird. Jede(r) wird nun logischerweise versuchen, möglichst gerechte Bedingungen für alle zu schaffen. In diesem Fall bedeutet gerecht, dass für jede(n) dieselben Ausgangsbedingungen vorherrschen, auch wenn das einen Verzicht auf mögliche Vorteile bedeutet. Was auf den ersten Blick gerecht und "sozial" erscheint, ist also größtenteils Eigennutz.
Das bedingungslose Grundeinkommen: Gleichheit = Gerechtigkeit?
Wenn Menschen tendenziell Ungleichheit als ungerecht empfinden, würde dann mehr Gleichheit auch zu gerechteren Verhältnissen führen? Ja, sagen die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Sie argumentieren, dass der Staat viel Geld aufwenden muss, um zu prüfen, ob eine Person finanzielle Unterstützung erhalten kann oder nicht. Durch das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) werden diese Ausgaben eingespart und können so wiederum in die Finanzierung des Grundeinkommens fließen. Gegner dagegen befürchten, dass es kaum mehr Anreize mehr geben würde, einer Arbeit nachzugehen und so die Gesellschaft einen finanziellen Kollaps erleiden könnte. Außerdem glauben sie, dass ein leistungsunabhängiges Einkommen dem Gerechtigkeitssinn vieler Bürger(innen) widerspricht. Was ist also gerechter: Gleichheit für alle oder jedem das Seine?
Kann es demnach sein, dass Egoismus der Motor für mehr Gerechtigkeit ist? "Jain!", würden Verhaltensökonomen auf diese Frage antworten. Lange glaubten sie, dass der Mensch ein "homo oeconomicus" ist, also jemand, der stets versucht, seinen finanziellen Profit zu maximieren. Wissenschaftliche Versuche wie das Ultimatumspiel stellten dieses Denken auf den Kopf: Die Wirtschaftsforscher fanden heraus, dass wir eine zu große Ungleichheit überwiegend als ungerecht empfinden. Das würde bedeuten, dass reiche Menschen kein Interesse daran haben, dass die Armen immer ärmer werden. Andersherum wären arme Menschen bereit, Ungleichheit hinzunehmen, solange die finanziellen Unterschiede nicht zu groß werden. Die Experimente haben gezeigt, dass auch schon dreijährige Kinder mit dem nötigen Anreiz großzügig teilen können. Das lässt darauf schließen, dass der Mensch tatsächlich einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit hat.
CARITAS KAMPAGNE 2016: Mach dich stark für Generationengerechtigkeit (www.starke-generationen.de)Deutscher Caritasverband, H. Richard
Generationengerechtigkeit
Da vollkommene Gerechtigkeit jedoch in keiner Gesellschaft als Ist-Zustand existiert, kann sie nur ein Ideal, ein Ziel beschreiben. Wie also kann man zu mehr Gerechtigkeit kommen? Wie ist das z. B. mit der Generationengerechtigkeit? Manch einer fragt sich, ob die Jugend von heute in Zukunft dieselben Lebensbedingungen und -chancen vorfinden wird. Wenn künftige Generationen ein Mitspracherecht hätten, würden sie wahrscheinlich vieles anprangern: die Ausbeutung der Umwelt, die hohe Staatsverschuldung, aber auch fehlende Reformen des sozialen Sicherungssystems, denn in Zukunft wird es mehr alte als junge Menschen geben. Wie können die zahlenmäßig unterlegenen Jungen die erwarteten hohen Renten- und Pflegeversicherungskosten stemmen?
Um hier gerechte Verhältnisse herzustellen, braucht es Generationengerechtigkeit, also eine soziale, kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Gestaltung der Umwelt und der Gesellschaft, die für jede (auch künftige) Generation(en) annähernd gleiche Teilhabe- und Verwirklichungschancen sicherstellt.